Hans Rudolf Zeller                                                                           1994

Metaphilosophische   Voraussetzungen   der   Schrift-Laut-Musik

(Erstmals erschienen in: PHREN 5.-17- Jahrestagung 1981-1994 Dokumentation Teil II  PHREN-Verlag München, Freiburg i- Br. 1996):

Das gewandelte Verhältnis zur Schrift und ihre selbst schon kompositorische Gestaltung bildet eines der wesentlichen Kriterien für das Experimentelle der experimentellen Musik. Demgegenüber stand noch in der Phase der Neuen Musik die für das Komponieren wie für die Aufführungspraxis verbindliche Einheitlichkeit der Notenschrift trotz ihrer permanenten Erweiterung außer Frage, auch wenn Schönberg theoretisch an der Entwicklung einer neuen Zwölfton-Schrift interessiert war, Josef Matthias Hauer in der von ihm entworfenen Version komponierte oder Julián Carrillo für die von ihm entdeckten Sechzehnteltöne die Zahlennotation adaptierte. Zweifellos bereits symptomatische Ausnahmen von der nach wie vor gültigen Einheitlichkeit der Notation, die aber den Status des voll ausnotierten musikalischen Textes und die Realisierung seines Sinns in der Aufführung gerade bestätigten, allerdings auch die sich schon bald noch vertiefende Kluft zwischen der Musik als Schrift und als Klang, als Komposition und Interpretation, als Lektüre- und als Hörereignis.

Ganz anders hingegen, nämlich bald unübersehbar vielfältig gestaltete sich das Verhältnis zur Schrift in der experimentellen Musik, denn fast nur mehr ausnahmsweise begegnete man auch gebräuchlichen Notationen, die dann höchst Ungebräuchliches, womöglich für höchst ungebräuchliche Klangerzeuger insinuierten;  in der Regel jedoch ihrerseits schon komponierten Schriftsystemen, Typographien, Kalligraphien, Graphiken, oft sogar in ein und demselben Stück, und ebenso verschiedenen Funktionen der Schrift vor, in und nach der Aufführung;  Musik ohne Noten, da unmittelbar auf Tonband fixiert, ebenso wie "Noten" ohne Musik, das heißt ohne im Raum wahrnehmbare bzw. produzierte Klänge oder Geräusche, aber auch Musik simultan mit Noten, Diagrammen, Schrifttafeln, Dia- und Filmprojektionen. Obsolet war danach die geläufige Unterscheidung zwischen einer Musik als Partitur, "nur auf dem Papier", und ihrer nicht selten auch auswendig vollbrachten Aufführung, erfahrbar vielmehr, wie immer auch im einzelnen akzentuiert, Schrift-Laut-Musik. Insofern scheint mir dieser Titel nicht nur Konfiguration und Tendenz meiner eigenen Versuche wiederzugeben, obwohl in ihnen vor jeglicher Schrift zumeist auch der Schreibvorgang selbst projiziert wird.

In Marx-Mill für einen Sprecher, beliebig viele Schreiber und zwei Diaprojektoren von 1976, der Bearbeitung eines ökonomisch-philosophischen Textes von Karl Marx zur Utopie einer menschlichen Sprache, waren die projizierten Textfragmente allerdings noch immobil, weil vorweg als Typoskript, Handschrift, Letterncollage, Schriftzeichnung etc. auf ca. 150 Dias fixiert. Doch schon im selben Jahr folgte in Metz, am Rande der Rencontres internationales, eine erste Annäherung an den Diascriptor (oder Overhead-Projektor), eigentlich kaum mehr als ein visueller Event, und dennoch fast programmatisch: die Auflösung oder Rückübertragung eines gedruckten Textes in teilweise unleserliche Handschrift. 1980 entstanden dann die ersten Sprech-Schriften, sozusagen Gedichte für Stimme und Diascriptor, die ich zusammen mit anderen Entwürfen 1981 im Rahmen des von René Bastian in Wissembourg eingerichteten Ateliers langage/musique präsentierte. Danach, auf Initiative von Stephan Wunderlich, erst wieder 1984 in München. Aus der zunächst noch collagehaften Form entwickelten sich bald schon autonome und ziemliche verschieden strukturierte Stücke, so die DENKFIGUR für Stimme und Schreibblock (statt Projektor), DIA-LOG für zwei Akteure an zwei Diascriptoren und i-reell, aber auch ein Stück für so etwas Künftiges wie ein "Sprech- und Schreibtheater", dessen Akteure freilich nicht allein vokal oder auf der Folie Bewegungen ausführen, sondern ebenso im Raum.

Erst relativ spät hingegen ließ sich die schon seit längerem projektierte Einbeziehung des Tons in die Schrift-Laut-Komposition verwirklichen, das heißt erst 1990, in der von Heinz- Klaus Metzger und Rainer Riehn für das Erlanger Festival des Hörens akzeptierten Klavierartikulation, und zwei Jahre später im Skizzenbuch BX. Denn der Laut in "Schrift-Laut-Musik" figurierte stets auch für den Ton - er war unter dieser Chiffre stets mitgemeint. So mag beispielsweise der Ton "a" als Klavierton etwa simultan mit dem "a" der Stimme oder einer Schreibweise des Buchstabens "a" erklingen; und zu realisieren wären die Stücke von einem Akteur, der sukzessiv oder simultan artikuliert (und sogar intoniert), schreibt und spielt, also in gewisser Weise das Stück vor anderen am Klavier komponiert. Der musikalische Text setzt sich nun wirklich aus Elementen zusammen, die sowohl Elemente der Sprache wie der Musik sind und allesamt schriftlich zu charakterisieren, wenn nicht sogar im traditionellen Sinne zu notieren. Aber Schrift notiert nicht allein die vokalen und instrumentalen Klänge und Aktionen, sondern ebenso Form und Verlauf der Schreibfiguren, derart jedoch die Realisierung von Hör- und Lesemomenten. Auf einem gemeinsamen Terrain erscheint separat oder aufeinander bezogen, was in experimenteller Literatur wie Musik, getreu der Differenz von Laut und Schrift, zu neuen, strikt getrennt entwickelten "Gattungen" führte, zu Lautdichtung, Sprech- oder Hörtext gegenüber visueller Poesie auf der einen, zur Tonbandkomposition gegenüber einer Musik zum Lesen auf der anderen Seite.

In den 60-er Jahren zeigte sich, daß besagte Differenz aber ebenso für die genuin philosophische Thematisierung relevant geworden war, als Differenz zwischen lautlicher und schriftlicher Textkonstitution. Deren Modi waren Gegenstand meiner "Selbstuntersuchung der Untersuchung" unter dem Titel Das Thema Übersetzung, auf die sich auch die metaphilosophischen Voraussetzungen der Schrift-Laut-Musik beziehen, obwohl man vielleicht eher von unvermindert wirksamen Impulsen, Anregungen, Motiven sprechen sollte.

Auszugehen war von der Sprache und ihrer Bedeutung für jede philosophische Thematisierung, im Unterschied zu ihrer traditionellen Behandlung in Logik und Sprachphilosophie. Sprache konnte offenbar nicht länger nur das Thema einer speziellen Disziplin sein, hatte sie sich doch als Schlüssel zu und Barriere vor allen damals aktuellen philosophischen Fragestellungen erwiesen. Zuvor eher peripher, geradezu metaphilosophisch thematisiert, besetzte sie nun das Zentrum. Beherrschendes Thema war sie allerdings schon für den frühen Husserl, wenn auch vorerst negativ, als Ursprung der das Denken immer wieder in die Irre führenden "Äquivokationen". Im Namen der Eindeutigkeit des philosophischen Sprachgebrauchs galt es mithin, der Sprache Grenzen zu setzen, wie zuvor der Vernunft bei Kant, und dementsprechend nannte Husserl sein erstes Hauptwerk Logische Untersuchungen.

Obwohl schriftlich protokolliert, orientierten sich Husserls Untersuchungen dennoch im wesentlichen am gesprochenen Wort oder Satz, thematisierten nicht die Differenz und damit explizit seine schriftliche Fassung. Ähnliches ließe sich allerdings auch von der etwa gleichzeitig von de Saussure begründeten modernen Sprachwissenschaft sagen, die dezidiert bei der gesprochenen parole ansetzte und alle Möglichkeiten der Schrift so sehr zur Darstellung der gesprochenen Sprache (langue) verausgabte, daß für die Darstellung der écriture, die seit der Alphabetisierung die Sprachgebilde entscheidend mitverfaßte, nur relativ wenig Raum übrigblieb. Die écriture wird nicht der langue, dem Sprachsystem, sondern der langage oder allgemeinen Sprachfähigkeit zugeordnet, eben deshalb jedoch keine eigene Linguistik für die schriftliche Dimension oder Fassung der natürlichen Sprachen ausgearbeitet. Schrift erscheint der traditionellen Auffassung entsprechend als das historisch Spätere, daher als bloße Ergänzung, und die Differenz zwischen Gesprochenem und Geschriebenem wird daher auch nicht thematisiert, ihre wiederum schriftlich fundierte Identität vielmehr vorausgesetzt.

Thematisiert wurde sie weder linguistisch noch philosophisch, hingegen metaphilosophisch, und wohl am umfassendsten von Jacques Derrida in De la Grammatologie, dem metaphilosophischen Pendant zu Trubetzkoys Phonologie, das der einseitigen Orientierung der Linguistik an der phone wie überhaupt der universalen "Phonetisierung der Schrift" widerspricht und sie mit der gramma konfrontiert, dem Buchstaben, der nicht allein Linguistik und Philosophie erst ermöglichte. Das zentrale Kapitel setzt sich mit einem der schärfsten Kritiker (und zugleich Sklaven) der Schrift seit Platon auseinander, mit Jean-Jacques Rousseau; ein anderes war bereits früher erschienen: Derridas Husserl-Interpretation Die Stimme und das Phänomen. In der Grammatologie rekapituliert Derrida durchaus nicht die historische Entwicklung, wie sie von zahlreichen Typologien - und ziemlich unterschiedlich - dargestellt wird, also etwa die Entwicklung vom Bild zum Alphabet, die schon angesichts ihrer Dauer in dem Glauben bestärkte, die Schrift sei im Vergleich zum Gesprochenen nur eine, womöglich vor allem aus ökonomischen Gründen erfundene Ergänzung (supplément), die nicht bereits von Anfang an in der phone und parole mitgesetzt war, ihnen womöglich sogar, als Geste und Spur, vorausging. Denn das hieße die Körperorgane und ihre Bewegung willkürlich vom Mund und den Artikulationsorganen trennen und eine erst viel später entwickelte Weise des "artikulierten" Sprechens auf den Anfang zurückprojizieren.

Die zunehmende Eliminierung des Bildes und damit des Gegenständlichen aus der Schrift kulminiert im Alphabet. Ihr einziger "Gegenstand" ist nunmehr der Laut und das Verhältnis von signifiant und signifié bereits innersprachlich, im Zeichen fundiert. Damit war Sprache aber zugleich sowohl zeitlich - als Lautfolge - wie räumlich - als Schriftzeichen - disponiert und die Differenz beider ein Zwischen, in dem sich erst entscheiden muß, welche ihrer Möglichkeiten jeweils zu konkretisieren wäre, und jeweils nur diese und keine andere. Signifikanter als die Frage, inwieweit das Denken bereits vorweg sprachlich fixiert, wenn nicht gar determiniert ist, ob jeder Denkvorgang von lautlichen oder schriftlichen Markierungen, vom Klang der eigenen oder einer imaginierten Stimme oder auch von visuellen Zeichen und Schriftbildern begleitet oder aktiviert wird, ist der Bereich des Zwischen, der Sprachlosigkeit und zugleich der Übersetzung, in dem sich abzeichnen muß, welche Seite der Differenz sich konkretisieren kann. Stets wird es sich um ein Entweder - Oder handeln; das Sowohl-Als-Auch im Sinne einer Identität von Gesprochenem und Geschriebenem wäre die übliche Fiktion. Der autonome Schreibakt, eben kein pures Aufschreiben, läßt sich nicht als Fixierung dessen verstehen, was ebensogut gesprochen werden könnte, obwohl in der sogenannten freien Rede oft sogar "druckreif" gesprochen wird und umgekehrt die sogenannte Schriftsprache immer mehr Redewendungen und Argot reproduziert. Doch es gibt Gedanken, die weder ausgesprochen noch aufgeschrieben werden können, eben weil sie nur entweder ausgesprochen oder aufgeschrieben werden könnten. Das Verharren in der flukturierenden "Leere" und Indifferenz des Zwischen wendet sich derart gegen die einschränkenden Bedingungen der Differenz, die kein Außerhalb zuläßt.

Überbrückt wird das Zwischen der Differenz von Gesprochenem und Geschriebenem, die beide jeweils als Sprache identifiziert werden, allein durch die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) von Übersetzung, und daher wäre jeder sprachliche Ausdruck vorweg als Symbol (oder Beispiel) für die Möglichkeit von Übersetzung (oder deren Scheitern) zu verstehen. Dabei wird die absolute Differenz von Gesprochenem und Geschriebenem durch Übersetzung keinesfalls aufgehoben oder relativiert, als könnte das eine ebensogut oder gar beliebig durch das andere ersetzt oder vertreten werden. Strikt autonom sind beide insofern, als sie in sich schon vielstufige Übersetzungsprozesse darstellen und daher für sich genommen keiner zusätzlichen Transformation bedürfen. Schriftliche Aufzeichnung setzt nicht - wie etwa beim Diktat - einen zuvor bereits weitgehend ausformulierten Text voraus, sondern entsteht "unmittelbar", im autonomen Schreibvorgang, so sehr der geschriebene Text hernach (vor)gelesen werden mag. Denn Schrift ist ungleich mehr als ein stets auf die Fixierung des gesprochenen Worts bezogenes Supplement oder "Aufschreibesystem" - und Gleiches gilt für das gesprochene Wort, das ja in der Regel auch nicht nur geäußert wird, um aufgeschrieben zu werden.

Damit wäre aber schon angedeutet, inwiefern Übersetzung auf dem Niveau des autonomen Sprech- oder Schreibvorgangs zunächst unmöglich erscheint, obwohl in der Lektüre wie beim Hören eines Textes scheinbar unzweifelhaft Übersetzung zumindest im Sinne von Interpretation stattfindet und der jeweilige Lese- oder Hörsinn sich zumindest als eine von vielen möglichen Interpretationen erweist. Gelesen oder gehört wird offenbar dennoch im Vertrauen auf die alles Sprachliche fundierende Übersetzungsstruktur, die besagt, daß ein Ausdruck ebenso wie ein längerer Text auch anders, in einer anderen Fassung wiedergegeben werden könnte, selbst wenn diese Fassungen in Wirklichkeit gar nicht existieren und auch nicht ausgearbeitet werden. Paradigmatisch zeigt sich der Übersetzungsvorgang indes schon beim elementaren, primär in einem Schreibakt gesetzten Buchstaben, der dann etwa als ein "a" interpretiert und gelesen wird. Derart "bewegt" sich die je lautlich und schriftlich artikulierte Sprache intern wie extern in Übersetzungsvorgängen, die bereits das kleinste Element charakterisieren, auf deren metaphilosophische Theorie hier allerdings nur hingewiesen werden kann. Modellhaft agieren Übersetzungsvorgänge sowohl zwischen den Sprachen, zumal in der "fremdsprachlichen" Übersetzung und den unzähligen Phasen der Konstituierung ihres definitiven Textes, wie auch schon intern innerhalb jeder Sprache, alltäglich in der Form des "mit anderen Worten" und mehr oder weniger formalisiert in einer Vielzahl von Sprachfiguren wie Metapher, Definition, (wörtliches) Zitat, komplementär in Homonymie und Synonymik usw. Mit den innersprachlichen Übersetzungsvorgängen bezieht sich Sprache innerhalb eines thematisch bestimmten Zusammenhangs direkt auf sprachlich Vorgegebenes, seien es Sprachelemente, Wörter, Sätze, Texte, mithin auf die jeweilige Fassung, in der sie ein Thema bezeichnen oder entfalten. Für die metaphilosophische Übersetzungstheorie sind es Vorformen einer Thematisierung, die sie selbst, nun "systematisch" anwendet, indem sie das Thema und seinen Status gegenüber Titel und Begriff seinerseits thematisiert, vor allem auch im Unterschied zur fraglos am Thema orientierten philosophischen Untersuchung und ihren Formen der Hierarchisierung, ihrem Anspruch auf begriffliche Totalität und schriftliche Fixierung jenseits der Differenz von Laut und Schrift. Solcher Entdifferenzierung widerspricht die Thematisierung des Themas Übersetzung.

Die Differenz von gesprochener und schriftlich fixierter Sprache wurde allerdings schon in den großen philosophischen Entwürfen, wenn auch zumindest eher episodisch thematisiert und läßt sich auch dort keinesfalls auf Fragen der Rhetorik oder des Stils reduzieren. Vielmehr bestimmt diese Differenz die Entfaltung der Sache selbst. So bei Hegel, der in der Phänomenologie des Geistes nicht allein die Sprache philosophisch thematisierte, sondern schon im ersten Kapitel über die sinnliche Gewißheit die Dialektik des Diese in seiner doppelten Gestalt, als Jetzt und Hier, anhand eines Schriftexperiments entwickelte. Die Dialektik etwa des Jetzt wird "eine so verständliche Form erhalten, als es selbst ist". Und "auf die Frage: was ist das jetzt? antworten wir also zum Beispiel: das Jetzt ist die Nacht." Darauf folgt nun der Versuch mit der Schrift. Denn "um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; eben so wenig dadurch, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist." [1] Die Wahrheit des auf die ununterbrochene Jetztfolge angewiesenen, also zeitgebundenen Sprechens hat durch das bloße Aufschreiben, Aufbewahren und Lesen zu einem späteren Zeitpunkt eben doch verloren. Plastisch darzustellen - und dies konkret im Zusammenhang der Untersuchung - war das Schalwerden der Jetzt-Wahrheit in einem anderen Jetzt jedoch nur durch den Übergang vom zeitgebundenen Sprechen in den Raum, dem "Medium" der Schrift, ohne die auch die Phänomenologie selbst nicht hätte entfaltet werden können. Gleichwohl wird die Schrift nur an dieser Stelle explizit thematisiert, ihre Bedeutung für die dialektische Bewegung selbst aber nicht näher bestimmt, eher stillschweigend vorausgesetzt. Denn - so Derrida in seiner Husserl-Interpretation, auch kritisch gegen Husserl: "Die Geschichte der Metaphysik ist das absolute Sich-sprechen-hören-Wollen." Für Hegel gelangte sie mit dem absoluten Wissen zum Abschluß - er schrieb sie zu Ende, aber als Geschichte der Stimme (des Absoluten), die allein sich selbst hören will, ohne vom Zwischenträger Schrift zwar notiert, damit aber gleichzeitig auch abgetötet zu werden, oder so, als gäbe es diesen (noch) nicht. Demgegenüber Derridas Resümee: "Eine differänzlose Stimme, eine Stimme ohne Schrift ist zugleich absolut lebendig und absolut tot." [2]

Der von Leibniz' Idee einer Characteristica universalis beeinflußte logische Formalismus hingegen, den Hegel übrigens kategorisch ablehnte, was auch sein polemisches Verhältnis zu Mathematik und Naturwissenschaft erklärt, forderte gerade umgekehrt eine Schrift ohne Stimme und konzipierte das Projekt einer Loslösung der Schrift von der "Wortsprache" und deren Substitution durch Buchstabensymbole. Wohl am radikalsten in der 1879, rund 70 Jahre nach der Phänomenologie erschienenen Begriffsschrift, mit dem Untertitel "Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens" von Gottlob Frege. Unübersehbar übte sie Kritik an der Wortsprache und ihrer schriftlichen Fixierung, welche die logischen Beziehungen, da immer noch an der Stimme orientiert, auf der Schreibfläche nicht rein graphisch, sondern eben nur linear, in Zeilen angeordnet wieder-zugeben vermag. "Wenn es sich nicht darum handelt," schreibt Frege in einem Kommentar, "das natürliche Denken darzustellen, wie es sich in Wechselwirkung mit der Wortsprache gestaltet hat, sondern dessen Einseitigkeiten zu ergänzen, die sich aus dem engen Anschluß an den einen Sinn des Gehörs ergeben haben, so wird demnach die Schrift dem Laute vorzuziehen seyn. Eine solche Schrift muß, um die eigenthümlichen Vorzüge sichtbarer Zeichen auszunutzen, von allen Wortsprachen gänzlich verschieden seyn. Daß diese Vorzüge in der Wortschrift fast gar nicht zur Geltung kommen, bedarf kaum der Erwähnung." Dabei bietet die Schrift doch vor allem die Möglichkeit, "Vieles gleichzeitig gegenwärtig zu halten, und wenn wir auch nur einen kleinen Teil davon in jedem Augenblicke ins Auge fassen können, so behalten wir doch einen allgemeinen Eindruck auch vom Uebrigen, und dieses steht, wann wir es brauchen, sofort zu unserer Verfügung." Bislang jedoch blieb die Schrift noch allzusehr der "linearen" Zeitlichkeit der Rede verhaftet und entsprach daher keinesfalls der immanent symbolischen Dimension des Denkens, obwohl doch gerade Schriftzeichen und ihre Konstellationen die Denkbewegungen quasi unmittelbar abbilden könnten: "Die Lagenverhältnisse der Schriftzeichen auf der zweifach ausgedehnten Schreibfläche können in weit mannichfacherer Weise zum Ausdrucke innerer Beziehungen verwendet werden als das bloße Folgen und Vorhergehen in der einfach ausgedehnten Zeit, und dies erleichtert die Auffindung dessen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit gerade richten wollen. In der That entspricht ja auch die einfache Reihung in keiner Weise der Mannichfaltigkeit der logischen Beziehungen, durch welche die Gedanken untereinander verknüpft sind." [3]

Wittgenstein wird im Tractatus logico-philosphicus, der sich u.a. auch auf Freges Begriffsschrift und deren graphische Symbole bezieht, von "Notation" sprechen. Die metaphilosophische Spekulation hält fest, daß Wittgensteins Tractatus bereits die Reduktionsform einer umfangreichen Abhandlung darstellt, ihre Formalisierung, in der gleichwohl schon der Verzicht auf eine "bessere", logisch perfekte Sprache angelegt war, etwa in dem Hinweis auf die äußerst verwickelten Konventionen der gesprochenen Umgangssprache. Sie ohne Rückversicherung bei einer nach wie vor als möglich voraus-gesetzten philosophischen Begrifflichkeit zu thematisieren, bedeutete auf die Ausarbeitung des einen Themas zu verzichten, jegliches Thema vielmehr immer wieder neu zu thematisieren, also jedes Wort oder womöglich jeden Buch-staben, ob mündlich oder schriftlich. Aus seinen Manuskripten Bücher zu machen, überließ Wittgenstein seinen Schülern, nicht anders als vor ihm in mehreren Fällen sogar schon Husserl, der permanent "mit dem Bleistift" denkende Phänomenologe, der 50 000 Blatt in Gabelsberger-Stenographie hinterließ.

Mit Freges Begriffsschrift nimmt der philosphische Text bereits die "Formelsprachen" der experimentellen Musik vorweg, ebenso aber die Buchstabenkonstellationen der konkreten Poesie. Allerdings könnten Freges Bemerkungen über "die Lagenverhältnisse der Schriftzeichen auf der zweifach ausgedehnten Schreibfläche" sogar schon die Typographie von Stéphane Mallarmés freilich noch der "Wortsprache" angehörenden und kurz vor der Jahrhundertwende erschienenen "Coup de Dés" erläutern, der wiederum die Textgestalt so mancher erst Mitte des 20. Jahrhunderts komponierten Musik antizipierte. Denn in ihrem experimentellen Stadium forcierte sie zwei einander scheinbar ausschließende Tendenzen zugleich: zum einen die Befreiung von der Schrift zugunsten der technischen Klangaufzeichnung, zum anderen die Unbestimmtheit des resultierenden Klangs zugunsten der autonomen Schrift. Musik wird als Stimme ohne Schrift konzipiert - und gleichzeitig als Schrift ohne Stimme, als Laut-Schrift wie als Schrift-Laut. Musik will sich von den Begrenzungen der Schrift wie der damit verbundenen Vorschrift befreien, ohne deshalb wieder zu jener Unmittelbarkeit des Lautes zurückzukehren, von der sie sich einst eben durch die schriftliche Fixierung und deren vielfältige Übertragungsmöglichkeiten distanziert hatte.

Daher der nahezu absolute Vorrang des Textes, zumal in der europäischen und europäisch kolonisierten Musik, wenn auch die für die anderen Musikkulturen charakteristische Improvisationspraxis ohne die gleichfalls schriftlichen Aufzeichnungen von Theoretikern kaum denkbar wäre und bestimmte Musikformen durchaus partiturähnlich kodifiziert sind. So sehr sich Musik indes bereits in der Lektüre der Partitur erschließen mag, enthält ihr Text doch stets zugleich Anweisungen zum Handeln, ist nie allein zu meditierende oder zu analysierende Schrift, sondern immer auch Vorschrift. Der Vorrang des Textes - und dessen Paradoxie - geht so weit, daß gefragt werden konnte, wo denn eigentlich die Musik sei: ob in der Partitur, in der Aufführung, oder ob beide nur Transkriptionen der anders nicht zugänglichen Konzeptionen des Komponisten vermittelten. Unübersehbar jedenfalls, daß im Verlauf der Textentwicklung und der ständigen Erweiterung der Notation immer mehr Funktionen und sogar "Parameter", die zuvor den Ausführenden, den effektiv Töne Produzierenden anvertraut waren, kompositorisch fixiert, damit unantastbar und der individuellen Gestaltung entzogen wurden, und nicht zufällig spätestens seit Einführung des temperierten Systems. Dies galt vorab für alle formrelevanten, ursprünglich aber improvisierten Partien, wie etwa die Kadenzen, die immerhin und der Idee nach gegen alle Routine zur stets wieder erneuerten Auseinandersetzung mit dem Text eines Werkes und zur freien Bearbeitung seines thematischen Materials herausforderten. Gerade sie jedoch hatten den übermächtigen Anspruch auf eine lückenlose Fixierung des Textes durch den Komponisten selbst, der vielleicht nebenbei noch ein großartiger Improvisator war, wenig entgegenzusetzen. Denn trotz aller Abweichungen und subversiven Gesten war Improvisation vor allem Komposition, allerdings ex tempore, "aus dem Stegreif", und deren Prüfstein von jeher eben nicht die freie Phantasie, sondern die strenge Fuge.

Erst die experimentelle Musik hat nicht nur - wenigstens für einzelne Stücke - die Partitur abgeschafft, sondern auch gegen jede schriftliche Aufzeichnung immune Formen der Improvisation entwickelt. Einer Improvisation, die nicht mehr wie vordem Komposition im Zeitraffer sein kann, weil sie Komposition eher fortsetzt, freilich außerhalb ihrer primär schriftlichen Fassung als eine gleichberechtigte und von ihr unabhängige Praxis begreift, deren Bedingungen, Regeln (oder Regulative) und Perspektiven selbst erst noch zu erforschen sind. Und die Tonträger der Medien, die schon viel früher zur Produktion konkreter wie elektro-akustischer Musik umfunktioniert worden waren, ermöglichten zudem ebenso die nun elektromagnetische oder digitale Aufzeichnung und Dokumentation experimenteller, zumeist per definitionem weder vorweg noch hernach im herkömmlichen Sinn notierbarer Improvisa-tionen. Die scheinbar strikt medientechnisch konzipierte und aufgezeichnete Klangkomposition hingegen vermochte sich nie auf Dauer von der Schrift und mit ihr von der visuellen Dimension zu emanzipieren. Davon zeugten in der Frühzeit der elektronischen Musik ihre eigentlich damals schon anachronistischen "Partituren", die authentisch allein auf Tonband zu fixierende Kompositionen nachträglich auch graphischbildhaft vor Augen führen sollten, dennoch anachronistisch schon deshalb, weil sie im Gegensatz zu den historischen Partituren für ein Instrumentarium "geschrieben" waren, das von der technischen Innovation bereits wenige Jahre später überholt sein würde. Zu den großen Ausnahmen zählt hier die Partitur von Gottfried Michael Koenigs Essay, weil sie gerade nicht das traditionelle Bild der Partitur reproduziert und daher auch den zeitlichen Verlauf des Stücks nicht wiedergibt, sondern verbal und anhand von Tabellen minutiös die einzelnen Produktionsphasen einer "Komposition für elektronische Klänge" aus dem Jahr 1957 protokolliert - auch insofern ein Essay.

Obwohl sich das Tonband als die einzig adäquate "Partitur" erwiesen hatte, sollten die nun medientechnisch aufgezeichneten Klangverläufe doch auch wieder visuell wahrnehmbar sein, wieder in graphische Äquivalente übertragen werden können und damit jene schriftliche Textform von Musik restituieren, in der Schrift nie autonom, sondern als Notenschrift immer auch Mittel zum Zweck, nämlich der Aufführung war. Im Zeichen der medien-technisch ermöglichten Autonomie des Klangs indes mutierte sie zur Reproduktion eines ein für allemal auf Tonband fixierten Textes oder auch zur textlosen experimentellen Improvisation. Dem entsprach auf der anderen Seite, als Gegenbewegung, das Projekt einer Autonomie der Schrift, deren Komponenten nicht mehr als Vorschrift zu deuten, sondern imaginativ in klangliche Äquivalente zu übertragen waren. Denn der musikalische Text machte sich die unterschiedlichsten graphischen Systeme, Materialien, Schriften und sogar bildnerischen Mittel zunutze, konnte ebensogut die Gestalt einer Zeichnung wie die eines verbalen Konzepts annehmen. Nicht selten jedoch initiierte er einen anderen, erst noch schriftlich auszuarbei-tenden (Noten-)Text, bezog sich also nicht unmittelbar auf die konkret zu realisierenden Klangereignisse, dagegen auf die Modi ihrer Erzeugung. Mithin setzt auch die autonome Schrift zumindest teilweise die überkommene Notenschrift voraus, vor allem aber Übertragungsprozesse in Gang, fixiert sie doch nicht Töne, sondern allenfalls ihre Parameter. Da sich die resultieren-den Klänge indes als beliebig austauschbar erweisen, stellt jede "Interpretation" einer Komposition oder eines Konzepts nicht bloß in Nuancen eine von unzähligen möglichen Versionen dar, und insofern die extremste Konsequenz der klanglich stets nur in Interpretationen zugänglichen "Partitur-Musik", die immerhin den zeitlichen Verlauf eines Stücks noch "analog" widerspiegelte. Der musikalische Text als autonome Schrift hingegen eignet sich, klanglich interpretiert, nicht mehr - wie etwa die Partitur - zum Mitlesen, erschließt sich als reine Lektürekomposition jedoch nur noch im Lesen und repräsentiert in Verbindung mit einer Klangkomposition den autonom visuellen Part.

Die vormalige Kluft zwischen Vorschrift oder Anweisung und Spielaktion, schriftlich Fixiertem und resultierendem Klang verschwindet oder wird vom Stück selber als Differenz thematisiert, vor allem dann, wenn Schrift nicht allein als Text den fundierenden Part (daher auch Widerpart) einer Aufführung darstellt, Lesbares und Hörbares vielmehr erst gemeinsam, simultan oder sukzessiv Musik evozieren. Und dies vielleicht um so mehr, wenn nicht nur das Zeichen, sondern auch die manuelle Schreibbewegung genauso präsent ist wie etwa der Spielvorgang. Darauf basiert jedenfalls meine eigene Version der Schrift-Laut-Musik, die neben oder vor den Zeichen zumeist auch den konkreten Schreibvorgang selbst ins Spiel bringt. Sein Potential wurde schon relativ früh entdeckt, wie eine Tagebuch-Aufzeichnung zeigt "Ende August 1961", übrigens im Zusammenhang mit einer "Kritik der musikalischen Graphik", nachdem Stockhausen zwei Jahre zuvor in Darmstadt ziemlich unterschiedliche Formen autonomer Schrift unter diesem von ihm selbst geprägten Titel eher unkritisch zusammengefaßt hatte. Meine Aufzeichnung beginnt mit einer Viertelnote, dem eingestrichenen "a" und dem Zusatz "schlag den Ton 'a' eine Sekunde lang an!"; etwas tiefer folgt eine Vertikale, wie sie etwa in Earle Browns December 1952 vorkommt, oder auch nur ein besonders langer Notenhals, und daneben steht die Anweisung "suche einen Weg, diesem Zeichen ein klangliches Korrelat zu verschaffen". Daran entzündete sich nun die folgende, alsbald auf das Komponieren selbst übergreifende Kritik: "Das Schema: Zeichen für ein Bezeichnetes wurde amputiert, die rechte Seite durchgestrichen, das Zeichen verabsolutiert. Theoretisch waren nun alle möglichen Zeichenkonfigurationen oder Zeichnungen musikalisch interpretierbar. Man wollte sich auch weiterhin Komponist nennen, obwohl es nichts mehr zu komponieren gab. Im Grunde war man immer noch darauf aus, etwas (festzuhalten) zu fixieren. Aus einer Zeichnung wie aus dem Zylinder mehrere Stücke ziehen, unzählig viele, diese Vieldeutigkeit, göttlich! Interessanter wäre gewesen, den Schreibvorgang selbst salonfähig zu machen, die Zeichen nicht durch bereits geläufige zu ersetzen; das Bezeichnungsschema vollends außer Kraft zu setzen. Zeichen mitspielen zu lassen, statt sie in Klänge zu verwandeln - ein abstruser Einfall! Dem Interpreten zu verbieten, seine Zeicheninterpretation wieder abzuspielen - ein Schock für jeden, der es kann! Wie bitte? Er soll spielen und Zeichen setzen - einfach nicht auszudenken!

Wir haben zu wählen: zwischen neuartigen Bezeichnungsweisen, Zeichen-systemen, um "Neues" auszudrücken und einer neuen Bestimmung der Zeichenfunktion selbst. Ob wir im Grunde komponieren wollen, d.h. auf-schreiben oder ob wir das Komponieren selbst zum Problem machen wollen. Sobald, in welcher Form auch immer, etwas fixiert wird, bewegen wir uns im zugewiesenen Feld. Erst wenn das Fixieren selbst in Frage gestellt ist, sind wir im Freien. Was heißt Komponieren? Warum wird fixiert, was geschieht eigentlich, wenn fixiert wird? Der moderne Sprachbegriff erlaubt es, für alles Ausdrückbare Zeichen zu finden. Wer daran nicht irre wird, ist entweder naiv oder bewußt reaktionär hinter radikaler Tarnfarbe...

Wer sich dem Problem stellt, muß praktisch aufs Komponieren, wie's bisher verstanden wurde, verzichten, d.h. auf's Stückeschreiben, "Formen"-erfinden, "Klangvisionen"-äußern u.a. Denn dies ist alles zur Genüge erforscht, es gibt keine unbebauten Stellen mehr (für Epigonen ist natürlich noch genug Spielraum vorhanden)."

Der "Verzicht" wurde keineswegs nur gefordert - er hatte Konsequenzen. Die erste war eine Reihe von Klavierimprovisationen, zumeist mit Objekten im Inneren des Flügels operierend und auf Tonband fixiert. Parallel dazu entstanden die Zyklen der "Impuls-Schriften", und fast stets war dabei das zu Fixierende, das gemeinhin einzig relevante "Resultat" zunächst noch völlig unbekannt, viel wichtiger und faszinierender hingegen das Fixieren selbst, die Erfahrungen am Leitfaden eines Ensembles ungewöhnlicher Fixierungsweisen entlang, eines Konzepts, das die ersten Impulse vermittelte und durchaus auch viele improvisatorische Momente zuließ. Doch schon damals, in den 60er Jahren, lange vor den Sprech-Schriften von 1980, wurde versucht, nicht nur die - möglicherweise auch von anderen realisierbaren - Konzepte aufzuzeichnen, sondern ebenso die einzelnen Phasen des Schreibvorgangs selbst, also die Schriftzüge, ihre Position, Ausdehnung, Bewegungsrichtung, ihr Tempo etc., und dabei wurden aus konventionellen Zeichen, wie etwa Buchstaben, unversehens Bewegungsmotive einer genuin musikalischen Choreo- oder vielmehr Scriptographie. Ähnliches galt übrigens für die als Phoneme vorgegebenen Laute: auch sie sollten in einer neuen, nichtphonetischen Vokalnotation nur mehr als Modelle für speziell konzipier-te, daher variablere Bewegungen der Artikulationsorgane selbst fungieren. Beide Notationsweisen beziehen sich somit auf vorgegebene, dennoch ver-änderbare, zu variierende, aber auch aufzulösende, gestisch zu pointierende Abläufe für die agierenden Organe Hand und Mund, im Gegensatz etwa zu Konzepten, die mit skripturalen und/oder vokalen Elementen operieren. So reduzierte sich das "Material" der Musik für einen Schreiber (ca. 1967) auf das Zeichen X, das sich vertikal gelesen aus dein Bustaben v und seiner Umkehrung - beide zugleich Symbole der Logik - zusammensetzt; horizontal aus den beiden Anführungszeichen, oder auch aus zwei Diagonalen ... Das v steht als Graphem für das Phonem "v", die Anführungszeichen verweisen auf ein ungeschriebenes Wort, einen Satz oder einen Text und die Diagonalen auf die Fläche, auf der sie, in der Schreibbewegung so schnell wie möglich alternierend, die Zeilen einer unlesbaren Schrift simulieren können. Aber trotz aller analytischen Betrachtungen symbolisiert das X unvermindert das (oder die) Unbekannte, so sehr es sich im Verlauf der Aktionen in ein Beziehungsgeflecht aus den verschiedenen "Bedeutungen" dieses Zeichens aufzulösen scheint.

Die quasi zweistimmige "Notation" der schriftlichen und vokalen Artikulationsweisen in DIA-LOG, i-reell und anderen Stücken hingegen markiert ebenso die kontinuierlichen Übergänge wie auch das zuweilen brüske Hin und Her zwischen beiden, vor allem jedoch deren unaufhebbare Differenz insofern, als sie verschiedenen Dimensionen - Raum und Zeit - angehören und gleichzeitig an verschiedene Wahrnehmungsweisen appellieren: an ein Lesen, das auch die inneren Klänge (im Sinne Kandinskys) hört wie an ein Hören, das sich auf die äußeren, im Raum erzeugten oder reproduzierten Klänge konzentriert. Mit den Dimensionen und den für sie jeweils charak-teristischen Wahrnehmungsweisen waren auch die für die skripturale und vokale Projektion jeweils prädestinierten Medien bereits vorgezeichnet, auch wenn sie - je nach Konzeption - erst nach und nach relevant wurden. Was für das eine Schrift-Laut-Konzept der Diascriptor, war für das andere der Schreibblock oder die Videokassette, wenn nicht sogar alle drei - und vielleicht noch mehr - gebraucht werden und überdies auch der vokale Part auf Kassette vorproduziert ist. Vorrang hat indes stets die unmittelbare Projektion der skripturalen und vokalen Artikulationen in der Aufführung, so sehr sie in Form von Reproduktionen auch ihre Gegenbilder oder eine frühere Fassung des gerade entstehenden Stücks zitieren mag.

Damit wären jedoch erst die Dimensionen und Medien bezeichnet, die eine konsequente Schrift-Laut-Musik zur Realisierung ihrer Konzepte neu ent-decken und notfalls auch modifizieren muß, in und zwischen denen sie sich bewegt und (möglicherweise) realisiert. Gerade die Differenz und Unvereinbarkeit der Dimensionen wird derart zum movens, das dazu anregt, ja zwingt, innerhalb einer jeden zu bislang unbekannten Differenzierungen zu gelangen, sie wenigstens anzudeuten, schon durch die geringste Bewegung auf der Fläche oder im Schallfeld. Zuweilen werden allerdings doch wieder eher Geschichten erzählt, wenn auch die von Zeichen und ihren Abenteuern alias Transformationen. Anders hingegen, wenn ein Konzept die conditio jeglicher Schrift-Laut-Musik symbolisch darstellt, und damit das Auseinanderklaffen der Dimensionen von Sprache wie Musik, so in Text, räumlich-zeitlich und hernach in SPRACHE, in deren zweiter Phase eine extrem zeitlupenhaft gedehnte Artikulation des Wortes "Sprache" seiner beliebig lange und langsam auf dem Folienband sich ausdehnenden skripturalen Fassung zu entsprechen sucht und dank solcher Konkretion der "Parallelisierung" sowohl die unwillkürliche Gleichsetzung wie auch die ganz und gar utopische Aufhebung der getrennten Dimensionen von Stimme und Schrift unerreichbar erscheint.

Anmerkungen

[1]  Vgl. G.F.W. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 81

[2]  Vgl. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt am Maln 1979, S.163. Das Adjektiv "differänzlos" verweist auf die "différance", die sich von dem gleichlautenden französischen Wort "différence" nur graphisch, durch den Buchstaben "a" unterscheidet, daher auch nur geschrieben oder gelesen werden kann. Für Derrida ist "das, was vorläufig das Wort oder der Begriff der 'différance' heißen soll, ... à la lettre weder ein Wort noch ein Begriff". Vgl. hierzu "Die différance" in:  J. D., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 29 ff.

[3]  Vgl. Gottlob Frege, Begriffsschrift und andere Aufsätze, Hildesheim 1993, S. 111