Hans
Rudolf Zeller
1994
Metaphilosophische
Voraussetzungen der Schrift-Laut-Musik
(Erstmals
erschienen in: PHREN 5.-17-
Jahrestagung 1981-1994 Dokumentation Teil II PHREN-Verlag
München, Freiburg i- Br. 1996):
Das
gewandelte Verhältnis zur Schrift und ihre selbst schon
kompositorische Gestaltung bildet eines der wesentlichen Kriterien
für das Experimentelle der experimentellen Musik. Demgegenüber
stand noch in der Phase der Neuen Musik die für das Komponieren
wie für die Aufführungspraxis verbindliche Einheitlichkeit
der Notenschrift trotz ihrer permanenten Erweiterung außer Frage,
auch wenn Schönberg theoretisch an der Entwicklung einer neuen
Zwölfton-Schrift interessiert war, Josef Matthias Hauer in der von
ihm entworfenen Version komponierte oder Julián Carrillo
für die von ihm entdeckten Sechzehnteltöne die Zahlennotation
adaptierte. Zweifellos bereits symptomatische Ausnahmen von der nach
wie vor gültigen Einheitlichkeit der Notation, die aber den Status
des voll ausnotierten musikalischen Textes und die Realisierung seines
Sinns in der Aufführung gerade bestätigten, allerdings auch
die sich schon bald noch vertiefende Kluft zwischen der Musik als
Schrift und als Klang, als Komposition und Interpretation, als
Lektüre- und als Hörereignis.
Ganz anders hingegen, nämlich bald unübersehbar
vielfältig gestaltete sich das Verhältnis zur Schrift in der
experimentellen Musik, denn fast nur mehr ausnahmsweise begegnete man
auch gebräuchlichen Notationen, die dann höchst
Ungebräuchliches, womöglich für höchst
ungebräuchliche Klangerzeuger insinuierten; in der Regel
jedoch ihrerseits schon komponierten Schriftsystemen, Typographien,
Kalligraphien, Graphiken, oft sogar in ein und demselben Stück, und
ebenso verschiedenen Funktionen der Schrift vor, in und nach der
Aufführung; Musik ohne Noten, da unmittelbar auf Tonband
fixiert, ebenso wie "Noten" ohne Musik, das heißt ohne im Raum
wahrnehmbare bzw. produzierte Klänge oder Geräusche, aber auch
Musik simultan mit Noten, Diagrammen, Schrifttafeln, Dia- und
Filmprojektionen. Obsolet war danach die geläufige Unterscheidung
zwischen einer Musik als Partitur, "nur auf dem Papier", und ihrer nicht
selten auch auswendig vollbrachten Aufführung, erfahrbar vielmehr,
wie immer auch im einzelnen akzentuiert, Schrift-Laut-Musik. Insofern
scheint mir dieser Titel nicht nur Konfiguration und Tendenz meiner
eigenen Versuche wiederzugeben, obwohl in ihnen vor jeglicher Schrift
zumeist auch der Schreibvorgang selbst projiziert wird.
In Marx-Mill für einen Sprecher, beliebig viele Schreiber und zwei
Diaprojektoren von 1976, der Bearbeitung eines
ökonomisch-philosophischen Textes von Karl Marx zur Utopie einer
menschlichen Sprache, waren die projizierten Textfragmente allerdings
noch immobil, weil vorweg als Typoskript, Handschrift, Letterncollage,
Schriftzeichnung etc. auf ca. 150 Dias fixiert. Doch schon im selben
Jahr folgte in Metz, am Rande der Rencontres internationales, eine erste
Annäherung an den Diascriptor (oder Overhead-Projektor),
eigentlich kaum mehr als ein visueller Event, und dennoch fast
programmatisch: die Auflösung oder Rückübertragung eines
gedruckten Textes in teilweise unleserliche Handschrift. 1980 entstanden
dann die ersten Sprech-Schriften, sozusagen Gedichte für Stimme
und Diascriptor, die ich zusammen mit anderen Entwürfen 1981 im
Rahmen des von René Bastian in Wissembourg eingerichteten
Ateliers langage/musique präsentierte. Danach, auf Initiative von
Stephan Wunderlich, erst wieder 1984 in München. Aus der
zunächst noch collagehaften Form entwickelten sich bald schon
autonome und ziemliche verschieden strukturierte Stücke, so die
DENKFIGUR für Stimme und Schreibblock (statt Projektor), DIA-LOG
für zwei Akteure an zwei Diascriptoren und i-reell, aber auch ein
Stück für so etwas Künftiges wie ein "Sprech- und
Schreibtheater", dessen Akteure freilich nicht allein vokal oder auf
der Folie Bewegungen ausführen, sondern ebenso im Raum.
Erst relativ spät hingegen ließ sich die schon seit
längerem projektierte Einbeziehung des Tons in die
Schrift-Laut-Komposition verwirklichen, das heißt erst 1990, in
der von Heinz- Klaus Metzger und Rainer Riehn für das Erlanger
Festival des Hörens akzeptierten Klavierartikulation, und zwei
Jahre später im Skizzenbuch BX. Denn der Laut in
"Schrift-Laut-Musik" figurierte stets auch für den Ton - er war
unter dieser Chiffre stets mitgemeint. So mag beispielsweise der Ton "a"
als Klavierton etwa simultan mit dem "a" der Stimme oder einer
Schreibweise des Buchstabens "a" erklingen; und zu realisieren
wären die Stücke von einem Akteur, der sukzessiv oder simultan
artikuliert (und sogar intoniert), schreibt und spielt, also in
gewisser Weise das Stück vor anderen am Klavier komponiert. Der
musikalische Text setzt sich nun wirklich aus Elementen zusammen, die
sowohl Elemente der Sprache wie der Musik sind und allesamt schriftlich
zu charakterisieren, wenn nicht sogar im traditionellen Sinne zu
notieren. Aber Schrift notiert nicht allein die vokalen und
instrumentalen Klänge und Aktionen, sondern ebenso Form und Verlauf
der Schreibfiguren, derart jedoch die Realisierung von Hör- und
Lesemomenten. Auf einem gemeinsamen Terrain erscheint separat oder
aufeinander bezogen, was in experimenteller Literatur wie Musik, getreu
der Differenz von Laut und Schrift, zu neuen, strikt getrennt
entwickelten "Gattungen" führte, zu Lautdichtung, Sprech- oder
Hörtext gegenüber visueller Poesie auf der einen, zur
Tonbandkomposition gegenüber einer Musik zum Lesen auf der anderen
Seite.
In den 60-er Jahren zeigte sich, daß besagte Differenz aber
ebenso für die genuin philosophische Thematisierung relevant
geworden war, als Differenz zwischen lautlicher und schriftlicher
Textkonstitution. Deren Modi waren Gegenstand meiner "Selbstuntersuchung
der Untersuchung" unter dem Titel Das Thema Übersetzung, auf die
sich auch die metaphilosophischen Voraussetzungen der
Schrift-Laut-Musik beziehen, obwohl man vielleicht eher von
unvermindert wirksamen Impulsen, Anregungen, Motiven sprechen sollte.
Auszugehen war von der Sprache und ihrer Bedeutung für jede
philosophische Thematisierung, im Unterschied zu ihrer traditionellen
Behandlung in Logik und Sprachphilosophie. Sprache konnte offenbar nicht
länger nur das Thema einer speziellen Disziplin sein, hatte sie
sich doch als Schlüssel zu und Barriere vor allen damals aktuellen
philosophischen Fragestellungen erwiesen. Zuvor eher peripher, geradezu
metaphilosophisch thematisiert, besetzte sie nun das Zentrum.
Beherrschendes Thema war sie allerdings schon für den frühen
Husserl, wenn auch vorerst negativ, als Ursprung der das Denken immer
wieder in die Irre führenden "Äquivokationen". Im Namen der
Eindeutigkeit des philosophischen Sprachgebrauchs galt es mithin, der
Sprache Grenzen zu setzen, wie zuvor der Vernunft bei Kant, und
dementsprechend nannte Husserl sein erstes Hauptwerk Logische
Untersuchungen.
Obwohl schriftlich protokolliert, orientierten sich Husserls
Untersuchungen dennoch im wesentlichen am gesprochenen Wort oder Satz,
thematisierten nicht die Differenz und damit explizit seine schriftliche
Fassung. Ähnliches ließe sich allerdings auch von der etwa
gleichzeitig von de Saussure begründeten modernen
Sprachwissenschaft sagen, die dezidiert bei der gesprochenen parole
ansetzte und alle Möglichkeiten der Schrift so sehr zur Darstellung
der gesprochenen Sprache (langue) verausgabte, daß für die
Darstellung der écriture, die seit der Alphabetisierung die
Sprachgebilde entscheidend mitverfaßte, nur relativ wenig Raum
übrigblieb. Die écriture wird nicht der langue, dem
Sprachsystem, sondern der langage oder allgemeinen Sprachfähigkeit
zugeordnet, eben deshalb jedoch keine eigene Linguistik für die
schriftliche Dimension oder Fassung der natürlichen Sprachen
ausgearbeitet. Schrift erscheint der traditionellen Auffassung
entsprechend als das historisch Spätere, daher als bloße
Ergänzung, und die Differenz zwischen Gesprochenem und
Geschriebenem wird daher auch nicht thematisiert, ihre wiederum
schriftlich fundierte Identität vielmehr vorausgesetzt.
Thematisiert wurde sie weder linguistisch noch philosophisch, hingegen
metaphilosophisch, und wohl am umfassendsten von Jacques Derrida in De
la Grammatologie, dem metaphilosophischen Pendant zu Trubetzkoys
Phonologie, das der einseitigen Orientierung der Linguistik an der phone
wie überhaupt der universalen "Phonetisierung der Schrift"
widerspricht und sie mit der gramma konfrontiert, dem Buchstaben, der
nicht allein Linguistik und Philosophie erst ermöglichte. Das
zentrale Kapitel setzt sich mit einem der schärfsten Kritiker (und
zugleich Sklaven) der Schrift seit Platon auseinander, mit Jean-Jacques
Rousseau; ein anderes war bereits früher erschienen: Derridas
Husserl-Interpretation Die Stimme und das Phänomen. In der
Grammatologie rekapituliert Derrida durchaus nicht die historische
Entwicklung, wie sie von zahlreichen Typologien - und ziemlich
unterschiedlich - dargestellt wird, also etwa die Entwicklung vom Bild
zum Alphabet, die schon angesichts ihrer Dauer in dem Glauben
bestärkte, die Schrift sei im Vergleich zum Gesprochenen nur eine,
womöglich vor allem aus ökonomischen Gründen erfundene
Ergänzung (supplément), die nicht bereits von Anfang an in
der phone und parole mitgesetzt war, ihnen womöglich sogar, als
Geste und Spur, vorausging. Denn das hieße die Körperorgane
und ihre Bewegung willkürlich vom Mund und den Artikulationsorganen
trennen und eine erst viel später entwickelte Weise des
"artikulierten" Sprechens auf den Anfang zurückprojizieren.
Die zunehmende Eliminierung des Bildes und damit des
Gegenständlichen aus der Schrift kulminiert im Alphabet. Ihr
einziger "Gegenstand" ist nunmehr der Laut und das Verhältnis von
signifiant und signifié bereits innersprachlich, im Zeichen
fundiert. Damit war Sprache aber zugleich sowohl zeitlich - als
Lautfolge - wie räumlich - als Schriftzeichen - disponiert und die
Differenz beider ein Zwischen, in dem sich erst entscheiden muß,
welche ihrer Möglichkeiten jeweils zu konkretisieren wäre, und
jeweils nur diese und keine andere. Signifikanter als die Frage,
inwieweit das Denken bereits vorweg sprachlich fixiert, wenn nicht gar
determiniert ist, ob jeder Denkvorgang von lautlichen oder schriftlichen
Markierungen, vom Klang der eigenen oder einer imaginierten Stimme oder
auch von visuellen Zeichen und Schriftbildern begleitet oder aktiviert
wird, ist der Bereich des Zwischen, der Sprachlosigkeit und zugleich
der Übersetzung, in dem sich abzeichnen muß, welche Seite
der Differenz sich konkretisieren kann. Stets wird es sich um ein
Entweder - Oder handeln; das Sowohl-Als-Auch im Sinne einer
Identität von Gesprochenem und Geschriebenem wäre die
übliche Fiktion. Der autonome Schreibakt, eben kein pures
Aufschreiben, läßt sich nicht als Fixierung dessen
verstehen, was ebensogut gesprochen werden könnte, obwohl in der
sogenannten freien Rede oft sogar "druckreif" gesprochen wird und
umgekehrt die sogenannte Schriftsprache immer mehr Redewendungen und
Argot reproduziert. Doch es gibt Gedanken, die weder ausgesprochen noch
aufgeschrieben werden können, eben weil sie nur entweder
ausgesprochen oder aufgeschrieben werden könnten. Das Verharren in
der flukturierenden "Leere" und Indifferenz des Zwischen wendet sich
derart gegen die einschränkenden Bedingungen der Differenz, die
kein Außerhalb zuläßt.
Überbrückt wird das Zwischen der Differenz von Gesprochenem
und Geschriebenem, die beide jeweils als Sprache identifiziert werden,
allein durch die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) von
Übersetzung, und daher wäre jeder sprachliche Ausdruck vorweg
als Symbol (oder Beispiel) für die Möglichkeit von
Übersetzung (oder deren Scheitern) zu verstehen. Dabei wird die
absolute Differenz von Gesprochenem und Geschriebenem durch
Übersetzung keinesfalls aufgehoben oder relativiert, als
könnte das eine ebensogut oder gar beliebig durch das andere
ersetzt oder vertreten werden. Strikt autonom sind beide insofern, als
sie in sich schon vielstufige Übersetzungsprozesse darstellen und
daher für sich genommen keiner zusätzlichen Transformation
bedürfen. Schriftliche Aufzeichnung setzt nicht - wie etwa beim
Diktat - einen zuvor bereits weitgehend ausformulierten Text voraus,
sondern entsteht "unmittelbar", im autonomen Schreibvorgang, so sehr der
geschriebene Text hernach (vor)gelesen werden mag. Denn Schrift ist
ungleich mehr als ein stets auf die Fixierung des gesprochenen Worts
bezogenes Supplement oder "Aufschreibesystem" - und Gleiches gilt
für das gesprochene Wort, das ja in der Regel auch nicht nur
geäußert wird, um aufgeschrieben zu werden.
Damit wäre aber schon angedeutet, inwiefern Übersetzung auf
dem Niveau des autonomen Sprech- oder Schreibvorgangs zunächst
unmöglich erscheint, obwohl in der Lektüre wie beim Hören
eines Textes scheinbar unzweifelhaft Übersetzung zumindest im
Sinne von Interpretation stattfindet und der jeweilige Lese- oder
Hörsinn sich zumindest als eine von vielen möglichen
Interpretationen erweist. Gelesen oder gehört wird offenbar
dennoch im Vertrauen auf die alles Sprachliche fundierende
Übersetzungsstruktur, die besagt, daß ein Ausdruck ebenso wie
ein längerer Text auch anders, in einer anderen Fassung
wiedergegeben werden könnte, selbst wenn diese Fassungen in
Wirklichkeit gar nicht existieren und auch nicht ausgearbeitet werden.
Paradigmatisch zeigt sich der Übersetzungsvorgang indes schon beim
elementaren, primär in einem Schreibakt gesetzten Buchstaben, der
dann etwa als ein "a" interpretiert und gelesen wird. Derart "bewegt"
sich die je lautlich und schriftlich artikulierte Sprache intern wie
extern in Übersetzungsvorgängen, die bereits das kleinste
Element charakterisieren, auf deren metaphilosophische Theorie hier
allerdings nur hingewiesen werden kann. Modellhaft agieren
Übersetzungsvorgänge sowohl zwischen den Sprachen, zumal in
der "fremdsprachlichen" Übersetzung und den unzähligen Phasen
der Konstituierung ihres definitiven Textes, wie auch schon intern
innerhalb jeder Sprache, alltäglich in der Form des "mit anderen
Worten" und mehr oder weniger formalisiert in einer Vielzahl von
Sprachfiguren wie Metapher, Definition, (wörtliches) Zitat,
komplementär in Homonymie und Synonymik usw. Mit den
innersprachlichen Übersetzungsvorgängen bezieht sich Sprache
innerhalb eines thematisch bestimmten Zusammenhangs direkt auf
sprachlich Vorgegebenes, seien es Sprachelemente, Wörter,
Sätze, Texte, mithin auf die jeweilige Fassung, in der sie ein
Thema bezeichnen oder entfalten. Für die metaphilosophische
Übersetzungstheorie sind es Vorformen einer Thematisierung, die sie
selbst, nun "systematisch" anwendet, indem sie das Thema und seinen
Status gegenüber Titel und Begriff seinerseits thematisiert, vor
allem auch im Unterschied zur fraglos am Thema orientierten
philosophischen Untersuchung und ihren Formen der Hierarchisierung,
ihrem Anspruch auf begriffliche Totalität und schriftliche
Fixierung jenseits der Differenz von Laut und Schrift. Solcher
Entdifferenzierung widerspricht die Thematisierung des Themas
Übersetzung.
Die Differenz von gesprochener und schriftlich fixierter Sprache wurde
allerdings schon in den großen philosophischen Entwürfen,
wenn auch zumindest eher episodisch thematisiert und läßt
sich auch dort keinesfalls auf Fragen der Rhetorik oder des Stils
reduzieren. Vielmehr bestimmt diese Differenz die Entfaltung der Sache
selbst. So bei Hegel, der in der Phänomenologie des Geistes nicht
allein die Sprache philosophisch thematisierte, sondern schon im ersten
Kapitel über die sinnliche Gewißheit die Dialektik des Diese
in seiner doppelten Gestalt, als Jetzt und Hier, anhand eines
Schriftexperiments entwickelte. Die Dialektik etwa des Jetzt wird "eine
so verständliche Form erhalten, als es selbst ist". Und "auf die
Frage: was ist das jetzt? antworten wir also zum Beispiel: das Jetzt ist
die Nacht." Darauf folgt nun der Versuch mit der Schrift. Denn "um die
Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein
einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine
Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; eben so wenig dadurch,
daß wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die
aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen,
daß sie schal geworden ist." [1] Die Wahrheit des auf die
ununterbrochene Jetztfolge angewiesenen, also zeitgebundenen Sprechens
hat durch das bloße Aufschreiben, Aufbewahren und Lesen zu einem
späteren Zeitpunkt eben doch verloren. Plastisch darzustellen -
und dies konkret im Zusammenhang der Untersuchung - war das Schalwerden
der Jetzt-Wahrheit in einem anderen Jetzt jedoch nur durch den
Übergang vom zeitgebundenen Sprechen in den Raum, dem "Medium" der
Schrift, ohne die auch die Phänomenologie selbst nicht hätte
entfaltet werden können. Gleichwohl wird die Schrift nur an dieser
Stelle explizit thematisiert, ihre Bedeutung für die dialektische
Bewegung selbst aber nicht näher bestimmt, eher stillschweigend
vorausgesetzt. Denn - so Derrida in seiner Husserl-Interpretation, auch
kritisch gegen Husserl: "Die Geschichte der Metaphysik ist das absolute
Sich-sprechen-hören-Wollen." Für Hegel gelangte sie mit dem
absoluten Wissen zum Abschluß - er schrieb sie zu Ende, aber als
Geschichte der Stimme (des Absoluten), die allein sich selbst hören
will, ohne vom Zwischenträger Schrift zwar notiert, damit aber
gleichzeitig auch abgetötet zu werden, oder so, als gäbe es
diesen (noch) nicht. Demgegenüber Derridas Resümee: "Eine
differänzlose Stimme, eine Stimme ohne Schrift ist zugleich
absolut lebendig und absolut tot." [2]
Der von Leibniz' Idee einer Characteristica universalis
beeinflußte logische Formalismus hingegen, den Hegel übrigens
kategorisch ablehnte, was auch sein polemisches Verhältnis zu
Mathematik und Naturwissenschaft erklärt, forderte gerade
umgekehrt eine Schrift ohne Stimme und konzipierte das Projekt einer
Loslösung der Schrift von der "Wortsprache" und deren Substitution
durch Buchstabensymbole. Wohl am radikalsten in der 1879, rund 70 Jahre
nach der Phänomenologie erschienenen Begriffsschrift, mit dem
Untertitel "Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des
reinen Denkens" von Gottlob Frege. Unübersehbar übte sie
Kritik an der Wortsprache und ihrer schriftlichen Fixierung, welche die
logischen Beziehungen, da immer noch an der Stimme orientiert, auf der
Schreibfläche nicht rein graphisch, sondern eben nur linear, in
Zeilen angeordnet wieder-zugeben vermag. "Wenn es sich nicht darum
handelt," schreibt Frege in einem Kommentar, "das natürliche
Denken darzustellen, wie es sich in Wechselwirkung mit der Wortsprache
gestaltet hat, sondern dessen Einseitigkeiten zu ergänzen, die
sich aus dem engen Anschluß an den einen Sinn des Gehörs
ergeben haben, so wird demnach die Schrift dem Laute vorzuziehen seyn.
Eine solche Schrift muß, um die eigenthümlichen Vorzüge
sichtbarer Zeichen auszunutzen, von allen Wortsprachen gänzlich
verschieden seyn. Daß diese Vorzüge in der Wortschrift fast
gar nicht zur Geltung kommen, bedarf kaum der Erwähnung." Dabei
bietet die Schrift doch vor allem die Möglichkeit, "Vieles
gleichzeitig gegenwärtig zu halten, und wenn wir auch nur einen
kleinen Teil davon in jedem Augenblicke ins Auge fassen können, so
behalten wir doch einen allgemeinen Eindruck auch vom Uebrigen, und
dieses steht, wann wir es brauchen, sofort zu unserer Verfügung."
Bislang jedoch blieb die Schrift noch allzusehr der "linearen"
Zeitlichkeit der Rede verhaftet und entsprach daher keinesfalls der
immanent symbolischen Dimension des Denkens, obwohl doch gerade
Schriftzeichen und ihre Konstellationen die Denkbewegungen quasi
unmittelbar abbilden könnten: "Die Lagenverhältnisse der
Schriftzeichen auf der zweifach ausgedehnten Schreibfläche
können in weit mannichfacherer Weise zum Ausdrucke innerer
Beziehungen verwendet werden als das bloße Folgen und Vorhergehen
in der einfach ausgedehnten Zeit, und dies erleichtert die Auffindung
dessen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit gerade richten wollen. In der
That entspricht ja auch die einfache Reihung in keiner Weise der
Mannichfaltigkeit der logischen Beziehungen, durch welche die Gedanken
untereinander verknüpft sind." [3]
Wittgenstein wird im Tractatus logico-philosphicus, der sich u.a. auch
auf Freges Begriffsschrift und deren graphische Symbole bezieht, von
"Notation" sprechen. Die metaphilosophische Spekulation hält fest,
daß Wittgensteins Tractatus bereits die Reduktionsform einer
umfangreichen Abhandlung darstellt, ihre Formalisierung, in der
gleichwohl schon der Verzicht auf eine "bessere", logisch perfekte
Sprache angelegt war, etwa in dem Hinweis auf die äußerst
verwickelten Konventionen der gesprochenen Umgangssprache. Sie ohne
Rückversicherung bei einer nach wie vor als möglich
voraus-gesetzten philosophischen Begrifflichkeit zu thematisieren,
bedeutete auf die Ausarbeitung des einen Themas zu verzichten, jegliches
Thema vielmehr immer wieder neu zu thematisieren, also jedes Wort oder
womöglich jeden Buch-staben, ob mündlich oder schriftlich.
Aus seinen Manuskripten Bücher zu machen, überließ
Wittgenstein seinen Schülern, nicht anders als vor ihm in mehreren
Fällen sogar schon Husserl, der permanent "mit dem Bleistift"
denkende Phänomenologe, der 50 000 Blatt in
Gabelsberger-Stenographie hinterließ.
Mit Freges Begriffsschrift nimmt der philosphische Text bereits die
"Formelsprachen" der experimentellen Musik vorweg, ebenso aber die
Buchstabenkonstellationen der konkreten Poesie. Allerdings könnten
Freges Bemerkungen über "die Lagenverhältnisse der
Schriftzeichen auf der zweifach ausgedehnten Schreibfläche" sogar
schon die Typographie von Stéphane Mallarmés freilich noch
der "Wortsprache" angehörenden und kurz vor der Jahrhundertwende
erschienenen "Coup de Dés" erläutern, der wiederum die
Textgestalt so mancher erst Mitte des 20. Jahrhunderts komponierten
Musik antizipierte. Denn in ihrem experimentellen Stadium forcierte sie
zwei einander scheinbar ausschließende Tendenzen zugleich: zum
einen die Befreiung von der Schrift zugunsten der technischen
Klangaufzeichnung, zum anderen die Unbestimmtheit des resultierenden
Klangs zugunsten der autonomen Schrift. Musik wird als Stimme ohne
Schrift konzipiert - und gleichzeitig als Schrift ohne Stimme, als
Laut-Schrift wie als Schrift-Laut. Musik will sich von den Begrenzungen
der Schrift wie der damit verbundenen Vorschrift befreien, ohne deshalb
wieder zu jener Unmittelbarkeit des Lautes zurückzukehren, von der
sie sich einst eben durch die schriftliche Fixierung und deren
vielfältige Übertragungsmöglichkeiten distanziert hatte.
Daher der nahezu absolute Vorrang des Textes, zumal in der
europäischen und europäisch kolonisierten Musik, wenn auch die
für die anderen Musikkulturen charakteristische
Improvisationspraxis ohne die gleichfalls schriftlichen Aufzeichnungen
von Theoretikern kaum denkbar wäre und bestimmte Musikformen
durchaus partiturähnlich kodifiziert sind. So sehr sich Musik indes
bereits in der Lektüre der Partitur erschließen mag,
enthält ihr Text doch stets zugleich Anweisungen zum Handeln, ist
nie allein zu meditierende oder zu analysierende Schrift, sondern immer
auch Vorschrift. Der Vorrang des Textes - und dessen Paradoxie - geht so
weit, daß gefragt werden konnte, wo denn eigentlich die Musik
sei: ob in der Partitur, in der Aufführung, oder ob beide nur
Transkriptionen der anders nicht zugänglichen Konzeptionen des
Komponisten vermittelten. Unübersehbar jedenfalls, daß im
Verlauf der Textentwicklung und der ständigen Erweiterung der
Notation immer mehr Funktionen und sogar "Parameter", die zuvor den
Ausführenden, den effektiv Töne Produzierenden anvertraut
waren, kompositorisch fixiert, damit unantastbar und der individuellen
Gestaltung entzogen wurden, und nicht zufällig spätestens seit
Einführung des temperierten Systems. Dies galt vorab für alle
formrelevanten, ursprünglich aber improvisierten Partien, wie etwa
die Kadenzen, die immerhin und der Idee nach gegen alle Routine zur
stets wieder erneuerten Auseinandersetzung mit dem Text eines Werkes
und zur freien Bearbeitung seines thematischen Materials
herausforderten. Gerade sie jedoch hatten den übermächtigen
Anspruch auf eine lückenlose Fixierung des Textes durch den
Komponisten selbst, der vielleicht nebenbei noch ein großartiger
Improvisator war, wenig entgegenzusetzen. Denn trotz aller Abweichungen
und subversiven Gesten war Improvisation vor allem Komposition,
allerdings ex tempore, "aus dem Stegreif", und deren Prüfstein von
jeher eben nicht die freie Phantasie, sondern die strenge Fuge.
Erst die experimentelle Musik hat nicht nur - wenigstens für
einzelne Stücke - die Partitur abgeschafft, sondern auch gegen jede
schriftliche Aufzeichnung immune Formen der Improvisation entwickelt.
Einer Improvisation, die nicht mehr wie vordem Komposition im
Zeitraffer sein kann, weil sie Komposition eher fortsetzt, freilich
außerhalb ihrer primär schriftlichen Fassung als eine
gleichberechtigte und von ihr unabhängige Praxis begreift, deren
Bedingungen, Regeln (oder Regulative) und Perspektiven selbst erst noch
zu erforschen sind. Und die Tonträger der Medien, die schon viel
früher zur Produktion konkreter wie elektro-akustischer Musik
umfunktioniert worden waren, ermöglichten zudem ebenso die nun
elektromagnetische oder digitale Aufzeichnung und Dokumentation
experimenteller, zumeist per definitionem weder vorweg noch hernach im
herkömmlichen Sinn notierbarer Improvisa-tionen. Die scheinbar
strikt medientechnisch konzipierte und aufgezeichnete Klangkomposition
hingegen vermochte sich nie auf Dauer von der Schrift und mit ihr von
der visuellen Dimension zu emanzipieren. Davon zeugten in der
Frühzeit der elektronischen Musik ihre eigentlich damals schon
anachronistischen "Partituren", die authentisch allein auf Tonband zu
fixierende Kompositionen nachträglich auch graphischbildhaft vor
Augen führen sollten, dennoch anachronistisch schon deshalb, weil
sie im Gegensatz zu den historischen Partituren für ein
Instrumentarium "geschrieben" waren, das von der technischen Innovation
bereits wenige Jahre später überholt sein würde. Zu den
großen Ausnahmen zählt hier die Partitur von Gottfried
Michael Koenigs Essay, weil sie gerade nicht das traditionelle Bild der
Partitur reproduziert und daher auch den zeitlichen Verlauf des
Stücks nicht wiedergibt, sondern verbal und anhand von Tabellen
minutiös die einzelnen Produktionsphasen einer "Komposition
für elektronische Klänge" aus dem Jahr 1957 protokolliert -
auch insofern ein Essay.
Obwohl sich das Tonband als die einzig adäquate "Partitur"
erwiesen hatte, sollten die nun medientechnisch aufgezeichneten
Klangverläufe doch auch wieder visuell wahrnehmbar sein, wieder in
graphische Äquivalente übertragen werden können und damit
jene schriftliche Textform von Musik restituieren, in der Schrift nie
autonom, sondern als Notenschrift immer auch Mittel zum Zweck,
nämlich der Aufführung war. Im Zeichen der medien-technisch
ermöglichten Autonomie des Klangs indes mutierte sie zur
Reproduktion eines ein für allemal auf Tonband fixierten Textes
oder auch zur textlosen experimentellen Improvisation. Dem entsprach auf
der anderen Seite, als Gegenbewegung, das Projekt einer Autonomie der
Schrift, deren Komponenten nicht mehr als Vorschrift zu deuten, sondern
imaginativ in klangliche Äquivalente zu übertragen waren.
Denn der musikalische Text machte sich die unterschiedlichsten
graphischen Systeme, Materialien, Schriften und sogar bildnerischen
Mittel zunutze, konnte ebensogut die Gestalt einer Zeichnung wie die
eines verbalen Konzepts annehmen. Nicht selten jedoch initiierte er
einen anderen, erst noch schriftlich auszuarbei-tenden (Noten-)Text,
bezog sich also nicht unmittelbar auf die konkret zu realisierenden
Klangereignisse, dagegen auf die Modi ihrer Erzeugung. Mithin setzt auch
die autonome Schrift zumindest teilweise die überkommene
Notenschrift voraus, vor allem aber Übertragungsprozesse in Gang,
fixiert sie doch nicht Töne, sondern allenfalls ihre Parameter. Da
sich die resultieren-den Klänge indes als beliebig austauschbar
erweisen, stellt jede "Interpretation" einer Komposition oder eines
Konzepts nicht bloß in Nuancen eine von unzähligen
möglichen Versionen dar, und insofern die extremste Konsequenz der
klanglich stets nur in Interpretationen zugänglichen
"Partitur-Musik", die immerhin den zeitlichen Verlauf eines Stücks
noch "analog" widerspiegelte. Der musikalische Text als autonome Schrift
hingegen eignet sich, klanglich interpretiert, nicht mehr - wie etwa
die Partitur - zum Mitlesen, erschließt sich als reine
Lektürekomposition jedoch nur noch im Lesen und repräsentiert
in Verbindung mit einer Klangkomposition den autonom visuellen Part.
Die vormalige Kluft zwischen Vorschrift oder Anweisung und Spielaktion,
schriftlich Fixiertem und resultierendem Klang verschwindet oder wird
vom Stück selber als Differenz thematisiert, vor allem dann, wenn
Schrift nicht allein als Text den fundierenden Part (daher auch
Widerpart) einer Aufführung darstellt, Lesbares und Hörbares
vielmehr erst gemeinsam, simultan oder sukzessiv Musik evozieren. Und
dies vielleicht um so mehr, wenn nicht nur das Zeichen, sondern auch die
manuelle Schreibbewegung genauso präsent ist wie etwa der
Spielvorgang. Darauf basiert jedenfalls meine eigene Version der
Schrift-Laut-Musik, die neben oder vor den Zeichen zumeist auch den
konkreten Schreibvorgang selbst ins Spiel bringt. Sein Potential wurde
schon relativ früh entdeckt, wie eine Tagebuch-Aufzeichnung zeigt
"Ende August 1961", übrigens im Zusammenhang mit einer "Kritik der
musikalischen Graphik", nachdem Stockhausen zwei Jahre zuvor in
Darmstadt ziemlich unterschiedliche Formen autonomer Schrift unter
diesem von ihm selbst geprägten Titel eher unkritisch
zusammengefaßt hatte. Meine Aufzeichnung beginnt mit einer
Viertelnote, dem eingestrichenen "a" und dem Zusatz "schlag den Ton 'a'
eine Sekunde lang an!"; etwas tiefer folgt eine Vertikale, wie sie etwa
in Earle Browns December 1952 vorkommt, oder auch nur ein besonders
langer Notenhals, und daneben steht die Anweisung "suche einen Weg,
diesem Zeichen ein klangliches Korrelat zu verschaffen". Daran
entzündete sich nun die folgende, alsbald auf das Komponieren
selbst übergreifende Kritik: "Das Schema: Zeichen für ein
Bezeichnetes wurde amputiert, die rechte Seite durchgestrichen, das
Zeichen verabsolutiert. Theoretisch waren nun alle möglichen
Zeichenkonfigurationen oder Zeichnungen musikalisch interpretierbar. Man
wollte sich auch weiterhin Komponist nennen, obwohl es nichts mehr zu
komponieren gab. Im Grunde war man immer noch darauf aus, etwas
(festzuhalten) zu fixieren. Aus einer Zeichnung wie aus dem Zylinder
mehrere Stücke ziehen, unzählig viele, diese Vieldeutigkeit,
göttlich! Interessanter wäre gewesen, den Schreibvorgang
selbst salonfähig zu machen, die Zeichen nicht durch bereits
geläufige zu ersetzen; das Bezeichnungsschema vollends außer
Kraft zu setzen. Zeichen mitspielen zu lassen, statt sie in Klänge
zu verwandeln - ein abstruser Einfall! Dem Interpreten zu verbieten,
seine Zeicheninterpretation wieder abzuspielen - ein Schock für
jeden, der es kann! Wie bitte? Er soll spielen und Zeichen setzen -
einfach nicht auszudenken!
Wir haben zu wählen: zwischen neuartigen Bezeichnungsweisen,
Zeichen-systemen, um "Neues" auszudrücken und einer neuen
Bestimmung der Zeichenfunktion selbst. Ob wir im Grunde komponieren
wollen, d.h. auf-schreiben oder ob wir das Komponieren selbst zum
Problem machen wollen. Sobald, in welcher Form auch immer, etwas fixiert
wird, bewegen wir uns im zugewiesenen Feld. Erst wenn das Fixieren
selbst in Frage gestellt ist, sind wir im Freien. Was heißt
Komponieren? Warum wird fixiert, was geschieht eigentlich, wenn fixiert
wird? Der moderne Sprachbegriff erlaubt es, für alles
Ausdrückbare Zeichen zu finden. Wer daran nicht irre wird, ist
entweder naiv oder bewußt reaktionär hinter radikaler
Tarnfarbe...
Wer sich dem Problem stellt, muß praktisch aufs Komponieren,
wie's bisher verstanden wurde, verzichten, d.h. auf's
Stückeschreiben, "Formen"-erfinden,
"Klangvisionen"-äußern u.a. Denn dies ist alles zur
Genüge erforscht, es gibt keine unbebauten Stellen mehr (für
Epigonen ist natürlich noch genug Spielraum vorhanden)."
Der "Verzicht" wurde keineswegs nur gefordert - er hatte Konsequenzen.
Die erste war eine Reihe von Klavierimprovisationen, zumeist mit
Objekten im Inneren des Flügels operierend und auf Tonband fixiert.
Parallel dazu entstanden die Zyklen der "Impuls-Schriften", und fast
stets war dabei das zu Fixierende, das gemeinhin einzig relevante
"Resultat" zunächst noch völlig unbekannt, viel wichtiger und
faszinierender hingegen das Fixieren selbst, die Erfahrungen am
Leitfaden eines Ensembles ungewöhnlicher Fixierungsweisen entlang,
eines Konzepts, das die ersten Impulse vermittelte und durchaus auch
viele improvisatorische Momente zuließ. Doch schon damals, in den
60er Jahren, lange vor den Sprech-Schriften von 1980, wurde versucht,
nicht nur die - möglicherweise auch von anderen realisierbaren -
Konzepte aufzuzeichnen, sondern ebenso die einzelnen Phasen des
Schreibvorgangs selbst, also die Schriftzüge, ihre Position,
Ausdehnung, Bewegungsrichtung, ihr Tempo etc., und dabei wurden aus
konventionellen Zeichen, wie etwa Buchstaben, unversehens
Bewegungsmotive einer genuin musikalischen Choreo- oder vielmehr
Scriptographie. Ähnliches galt übrigens für die als
Phoneme vorgegebenen Laute: auch sie sollten in einer neuen,
nichtphonetischen Vokalnotation nur mehr als Modelle für speziell
konzipier-te, daher variablere Bewegungen der Artikulationsorgane
selbst fungieren. Beide Notationsweisen beziehen sich somit auf
vorgegebene, dennoch ver-änderbare, zu variierende, aber auch
aufzulösende, gestisch zu pointierende Abläufe für die
agierenden Organe Hand und Mund, im Gegensatz etwa zu Konzepten, die
mit skripturalen und/oder vokalen Elementen operieren. So reduzierte
sich das "Material" der Musik für einen Schreiber (ca. 1967) auf
das Zeichen X, das sich vertikal gelesen aus dein Bustaben v und seiner
Umkehrung - beide zugleich Symbole der Logik - zusammensetzt;
horizontal aus den beiden Anführungszeichen, oder auch aus zwei
Diagonalen ... Das v steht als Graphem für das Phonem "v", die
Anführungszeichen verweisen auf ein ungeschriebenes Wort, einen
Satz oder einen Text und die Diagonalen auf die Fläche, auf der
sie, in der Schreibbewegung so schnell wie möglich alternierend,
die Zeilen einer unlesbaren Schrift simulieren können. Aber trotz
aller analytischen Betrachtungen symbolisiert das X unvermindert das
(oder die) Unbekannte, so sehr es sich im Verlauf der Aktionen in ein
Beziehungsgeflecht aus den verschiedenen "Bedeutungen" dieses Zeichens
aufzulösen scheint.
Die quasi zweistimmige "Notation" der schriftlichen und vokalen
Artikulationsweisen in DIA-LOG, i-reell und anderen Stücken
hingegen markiert ebenso die kontinuierlichen Übergänge wie
auch das zuweilen brüske Hin und Her zwischen beiden, vor allem
jedoch deren unaufhebbare Differenz insofern, als sie verschiedenen
Dimensionen - Raum und Zeit - angehören und gleichzeitig an
verschiedene Wahrnehmungsweisen appellieren: an ein Lesen, das auch die
inneren Klänge (im Sinne Kandinskys) hört wie an ein
Hören, das sich auf die äußeren, im Raum erzeugten oder
reproduzierten Klänge konzentriert. Mit den Dimensionen und den
für sie jeweils charak-teristischen Wahrnehmungsweisen waren auch
die für die skripturale und vokale Projektion jeweils
prädestinierten Medien bereits vorgezeichnet, auch wenn sie - je
nach Konzeption - erst nach und nach relevant wurden. Was für das
eine Schrift-Laut-Konzept der Diascriptor, war für das andere der
Schreibblock oder die Videokassette, wenn nicht sogar alle drei - und
vielleicht noch mehr - gebraucht werden und überdies auch der
vokale Part auf Kassette vorproduziert ist. Vorrang hat indes stets die
unmittelbare Projektion der skripturalen und vokalen Artikulationen in
der Aufführung, so sehr sie in Form von Reproduktionen auch ihre
Gegenbilder oder eine frühere Fassung des gerade entstehenden
Stücks zitieren mag.
Damit wären jedoch erst die Dimensionen und Medien bezeichnet, die
eine konsequente Schrift-Laut-Musik zur Realisierung ihrer Konzepte neu
ent-decken und notfalls auch modifizieren muß, in und zwischen
denen sie sich bewegt und (möglicherweise) realisiert. Gerade die
Differenz und Unvereinbarkeit der Dimensionen wird derart zum movens,
das dazu anregt, ja zwingt, innerhalb einer jeden zu bislang unbekannten
Differenzierungen zu gelangen, sie wenigstens anzudeuten, schon durch
die geringste Bewegung auf der Fläche oder im Schallfeld. Zuweilen
werden allerdings doch wieder eher Geschichten erzählt, wenn auch
die von Zeichen und ihren Abenteuern alias Transformationen. Anders
hingegen, wenn ein Konzept die conditio jeglicher Schrift-Laut-Musik
symbolisch darstellt, und damit das Auseinanderklaffen der Dimensionen
von Sprache wie Musik, so in Text, räumlich-zeitlich und hernach
in SPRACHE, in deren zweiter Phase eine extrem zeitlupenhaft gedehnte
Artikulation des Wortes "Sprache" seiner beliebig lange und langsam auf
dem Folienband sich ausdehnenden skripturalen Fassung zu entsprechen
sucht und dank solcher Konkretion der "Parallelisierung" sowohl die
unwillkürliche Gleichsetzung wie auch die ganz und gar utopische
Aufhebung der getrennten Dimensionen von Stimme und Schrift
unerreichbar erscheint.
Anmerkungen
[1] Vgl. G.F.W. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. von
Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 81
[2] Vgl. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen,
Frankfurt am Maln 1979, S.163. Das Adjektiv "differänzlos" verweist
auf die "différance", die sich von dem gleichlautenden
französischen Wort "différence" nur graphisch, durch den
Buchstaben "a" unterscheidet, daher auch nur geschrieben oder gelesen
werden kann. Für Derrida ist "das, was vorläufig das Wort oder
der Begriff der 'différance' heißen soll, ... à la
lettre weder ein Wort noch ein Begriff". Vgl. hierzu "Die
différance" in: J. D., Randgänge der Philosophie, Wien
1988, S. 29 ff.
[3] Vgl. Gottlob Frege, Begriffsschrift und andere Aufsätze,
Hildesheim 1993, S. 111
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